Es scheint zu den Gesetzmäßigkeiten der Bundesrepublik zu gehören, dass Kanzler ständigen Verratsvorwürfen ausgesetzt sind. Doch nicht aus dem Lager der Opposition, sondern aus dem eigenen: Adenauer war zu wenig national, Erhard zu liberal, Brandt ignorierte die Studenten, Schmidt war sowieso eigentlich ein Konservativer, Kohl hat uns den Euro eingebrockt und Merkel – nun ja – die ist ja eigentlich eine Sozialdemokratin. Erzählte man die Geschichte der Bundesrepublik aus der Sicht der hauseigenen Kanzlerkritiker, ergäbe das wohl einen recht absurden Erzählstrang. Rechte, die sich als Linke tarnen, Linke, die sich als Rechte tarnen, solche, die gar nichts sind – und jene, die alles sein wollen. Wenn Sozialdemokraten regierten, saßen eigentlich CDUler auf der Regierungsbank – und umgekehrt. Jede Legislatur würde nach Verrat und Heuchelei riechen. Nein, ein solches Geschichtsbuch möchte man ehrlich keinem Schüler zumuten.
Sind es die Notwendigkeiten der Mehrheitsbeschaffung? Der ominöse Median-Wähler? Die elende Konsensversessenheit der Deutschen? Oder doch das proportionale Wahlsystem? So oder so (oder so oder so) fällt es deutschen Kanzlern offenbar nicht leicht, weltanschaulich und programmatisch erkennbar zu bleiben. Auch Angela Merkel ist hier keine Ausnahme; vielleicht ist sie sogar der Prototyp des nivelliert-beschimpften Kanzlers. Atomausstieg, Wehrpflicht, Grenzöffnung… man braucht nur die Namen zu nennen, und schon hört man die Rufe der Kritiker: »Hier ist doch eine Grüne am Werk! Mindestens eine Sozialdemokratin!«. Und in der Tat, die Kritiker rufen nicht ins Leere. All diese Entscheidungen kehrten CDU-Positionen um, drehten sie auf den Kopf, interpretierten sie um, variierten sie bis zur Entstellung. Mal um den Zusammenhalt zu wahren, mal aus wahltaktischen Überlegungen, mal aus angeblicher Alternativlosigkeit, immer aber aus einem ausgeprägten Regierungsbewusstsein. Für Merkel scheinen Wählerpotenzial, Partei und Staat einerlei: In ihrer Person verdichten sich alle drei zu einem Amalgam aus Konsens, Notwendigkeit und Macht.

Auch diesmal. Die »Ehe für alle« soll kommen – wenn schon nicht mit dem Segen, so doch mit dem Schulterzucken der Kanzlerin. Während eines öffentlichen, gemütlichen Plausches zweier Journalisten und der Kanzlerin (wie sollte man es sonst nennen?) erzählte sie anhand eines persönlichen Erlebnisses, dass sie ihre Position in dieser Frage geändert habe. »Das sind Dinge, die mich sehr beschäftigen«… Aha, soso, »…Wenn der Staat einem homosexuellen Paar Kinder zur Pflege gibt, kann ich nicht mehr mit dem Kindeswohl argumentieren«, sagte sie vor einem überraschtem Publikum – und noch viel überraschteren Journalisten. Da war die Katze aus dem Sack: Die Union steht nicht mehr felsenfest hinter dem Eheprivileg für heterosexuelle Paare.
Die rechten Kritiker der Kanzlerin, die sich seit ihrer Flüchtlingspolitik verdoppelt oder verdreifacht haben dürften, haben ein neues Thema: Eine CDU-Kanzlerin vollzieht die Öffnung der heiligen Ehe aus Mann und Frau für Lesben und Schwule. Sie habe den letzten Rest Konservatismus in der Union aufgegeben und sich nun vollständig sozialdemokratisiert. Undenkbar!
Undenkbar? Es mag richtig sein, dass einige Linien des Konservatismus hier Einspruch erheben müssen. Der Politische Katholizismus wird sich damit nicht leicht abfinden können. Auch Evangelikale, auch Deutschnationale, Konservative Revolutionäre und Reaktionäre müssen, folgen sie ihren Traditionen, widersprechen. Sie alle eint ein starres, oder positiv gewendet: stabiles, Verständnis dessen, was man gesellschaftliche Werte nennt. Daran ist nun erst einmal nichts falsches. Doch sollte man sich in Erinnerung rufen, dass diese Traditionen des Konservatismus nach 1945 in der Bundesrepublik ihren Anschluss verloren. Es übernahm ein liberal-gewendeter, christdemokratisch abgekühlter, zum Teil auch angelsächsisch-inspirierter Konservatismus, der zur DNS der Unionsparteien gehört.
Angela Merkels Begründung der Öffnung der Ehe für Homosexuelle folgt dessen Pfaden – und ist deswegen interessant. Anders als ihre Kritiker vermuten lassen, hat sie sich nämlich keinesfalls auf die Seite der linken Aktivisten gestellt, die in der »Ehe für alle« einen menschenrechtlichen Anspruch sehen, dem die Bundesrepublik nun schon viel zu lange nicht gerecht wurde. Universale Gleichheit, unbedingte Nichtdiskriminierung – dies sind nicht die Argumente, die Angela Merkel am vergangenen Montag geltend machte. Sie sprach davon, dass homosexuelle Paare mittlerweile dieselben Werte leben würden, wie in einer klassischen Ehe aus Mann und Frau. Es sei daher angemessen, sich der Frage in Form einer »Gewissensentscheidung« anzunehmen. Den Gegner der Eheöffnung für Homosexuelle sei mit »Achtung« zu begegnen. Keine Spur von der Notwendigkeitsrhetorik eines Volker Beck. Kein Gebrauch des Wortes »Homphobie«. Hier passt sich eine Bundeskanzlerin den gesellschaftlichen Gegebenheiten an: Aus einem mulmigen Bauchgefühl im Jahre 2013 entwickelte sich ein vorsichtiges »Warum nicht irgendwann?« im Jahre 2017. Immerhin: eine übergroße Mehrheit der Deutschen befürwortet mittlerweile die »Ehe für alle« – eine Volkspartei kann dies nicht ewig ignorieren.
Angela Merkel bedient sich hier – ob bewusst oder unbewusst – einer speziellen konservativen Tradition. Am klarsten umriss Michael Oakeshott diese Form des Konservatismus in seinem Essay »On being Conservative« (1962) sowie in einem vielbeachtetem Vortrag vor der London School of Economics, »Political Education«(1977). Der britische Philosoph zählt zu den bedeutendsten konservativen Denkern des 20. Jahrhunderts. In seinem Heimatland stellt man seinen Namen nicht selten in eine Reihe mit dem Begründer des modernen Konservatismus, Edmund Burke. Hierzulande erfreut sich Oakeshott keines großen Ruhmes. Seine Rezeption in Deutschland blieb kümmerlich, obgleich er sich in den 20er Jahren zu Studienzwecken mehrfach in Marburg und Tübingen aufhielt.
Für Oakeshott ist die Gesellschaft, die ihre Handlungsfähigkeit in der Form des Staates erlangt, ein Konglomerat verschiedener Praktiken und Arrangements (den Begriff Tradition vermeidet er fast gänzlich). Sich zu diesen Praktiken richtig zu verhalten, ist eine Aktivität, die genuin politischer Natur ist und erlernt werden muss. »Politik gründet auf Wissen« – dieses Wissen aber ist ein Wissen um die Eigenschaften, Eigenarten, Unterschiede, Widersprüche und Zusammenhänge gesellschaftlicher Praktiken. »Politics is the activity of attending to the general arrangements of a collection of people who , in respect of their common recognition of a manner of attending to its arrangements, compose a single community«. Wer diese gesellschaftliche Praktiken nicht kennt, kann kein guter Politiker sein – er führt sich auf wie ein Fremdling. Denn allein aus dem Wissen der Praktiken folgt die Wahrung deren Kohärenz, das heißt das Zusammenspielen ihrer Einzelteile zu einem funktionierendem Ganzen. Eine Gesellschaft, deren Handeln grob selbstwidersprüchlich ist, wird zerfallen. Ein guter Politiker, so Oakeshott, der um die Kontinuität seines Staates bemüht ist, sorgt also für die Kohärenz seiner Praktiken und Arrangements:
»In political activity, then, men sail a boundless and bottomless sea; there is neither harbour for shelter nor floor for anchor age, neither startingplace nor appointed destination. The enterprise is to keep afloat on an even keel; the sea is both friend and enemy; and the seamanship consists in using the resources of a traditional manner of behaviour in order to make a friend of every hostile occasion.«
Entsprechend rechtfertigte er nachträglich die Einführung des Frauenwahlrechts in Großbritannein: es hatte sich »in der englischen Gesellschaft, durch die politische Partizipation von Frauen in der Öffentlichkeit, in Salons, in der Beeinflussung ihrer Männer schon soweit als gängige Praxis einer funktionierenden Gesellschaft erwiesen, dass die legislative Fixierung lediglich eine logische Konsequenz, ein Akt des Kohärent-Machens der sich planlos aber schlüssig entwickelnden Gesellschaft war«, wie Pit Kapetanovic Oakeshotts Argument zusammenfast.
Hier treffen sich Oakeshott und Angela Merkel – ja sie stoßen geradezu auf ihre gemeinsame Kohärenzmaxime an. Oakeshotts Konservatismus liegt der Regierungspraxis Angela Merkels sehr nahe: der Verfestigung gesellschaftlicher Praktiken, die sich außerdem als funktionsfest erweisen, ist durch Regierungshandeln nachzukommen. Ein guter Politiker sorgt für die Kohärenz seines Staatswesens; Regierungshandeln, gesellschaftliche Praktiken – all dies muss zusammenpassen. Auch wenn die Grenze zum Opportunismus eine feine sein mag, mit diesem Argument ließe sich die Eheöffnung konservativ rechtfertigen – mürrisch, aber doch entschlossen. Die Frage allein bleibt, ob sich ihre Parteikollegen ebenso um die Kohärenz der CDU-Politik sorgen.
Es gibt einige gute Gründe Merkels Politik aus konservativer Warte zu kritisieren. Nicht zuletzt, weil sie kein Werterepertoire zu besitzen scheint, deren Verbreitung in der Gesellschaft ihr am Herzen liegt. Eines jedoch kann man Merkel nicht zum Vorwurf machen: Warum gegen eine etablierte, eingespielte, in ihren Werten konservative gesellschaftliche Praktik Sturm laufen, wenn diese Schlacht längst verloren ist? Die Eheöffnung für homosexuelle Paare ist sicher kein Herzenswunsch des Konservatismus. Sie kann aber zu einem konservativ-vernünftigen Kompromiss werden. Angela Merkel steht für diesen Kompromiss.
Literatur
Kapetanovic, Pit. 2010. „Zur Theorie des Konservativismus – Kondylis und Oakeshott.“, IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse 9.
Oakeshott, Michael. 1962. „On being Conservative.“ in: Rationalism in Politics and Other Essays, London, Methuen: 168–96.
Oakeshott, Michael. 1977. „Political Education.“ Vortrag vor der London School of Economics.
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