Je weniger Individuum, desto mehr Individualismus
– Adorno
Ein großer Schritt nach Vorn zwischen die Füße der Dame, wir drehen uns, drehen uns weiter, setzen den linken Fuß seitwärts zur Tanzrichtung auf, ziehen den rechten Fuß an den linken heran, versuchen unter den bösen Blicken des Lehrers Gleichgewicht und Tempo zu halten, dann noch ein Schritt und noch ein Schritt und bei alledem auch noch möglichst das Umfallen vermeiden, um bloß nicht so dumm dazustehen wie das Nachbarpärchen. Ja, der Tanzkurs in der Zehnten Klasse bleibt einem im Gedächtnis. Den tausende deutschen Schüler, die diese Tortur gerade über sich ergehen lassen müssen, sei Mitgefühl ausgesprochen.
Neben dem gesellschaftlichen und kameradschaftlichem Allerlei drumherum, ist das Lernen klassischer Tanzarten aber auch ein Erlebnis an sich. In der zehnten Klasse haben viele Schüler wohl erste Disco-Erfahrungen gesammelt, und kennen also unter »Tanzen« vor allem die modernen Varianten der Bewegungen zu Pop-, Rap- oder Techno-Musik. Der klassische Tanz unterscheidet sich davon in beeindruckender Weise. Überwiegt beim modernen das Spontane, Kreative, Kombinatorische, Sich-Gehen-Lassen, das impulsive Bewegen zum Rhythmus der Musik; stellt der klassische ein geradezu fremdartiges Ordnungsregime dar. Geregelt sind nicht nur Partnerwahl, Musikart, Anlass und Kleidung, auch das Tanz selbst unterliegt ja einem klaren Rahmen. Schrittfolge, Haltung, Figuren, Schnelligkeit… All das hat zu harmonieren. Tut es das nicht, läuft man Gefahr mit einer laut vorgetragenen Korrektur des Tanzlehrers vor versammelter Meute blamiert zu werden.

Diese Harmonie ist ja aber doch eine besondere. Sie ergibt sich nicht aus einem Plan, einer sozusagen totalen Vorherbestimmung. Sie ist das Ergebnis zweier sehr freier Willensakte. Mann und Frau entschließen sich zu einem gemeinsamen Tanz – in engster Nähe und feinster Abstimmung. Die Beine bewegen sich, die Bewegung wird erwidert, das Ziel und Hin und Her des Gesamten ergibt sich aus dem geordneten Entschluss der Tanzpartner. Schritt muss auf Schritt folgen, weil es die Logik der Sache ergibt, die beide erkennen und in ihrer Bewegung darstellen. Das Tanzpaar spielt zusammen, in einem klaren Wortsinn. Es erschafft eine Ordnung in freiem Entschluss. Das Geordnete und das Freie sind hier also keine Gegensätze. Beides kommt in der Tanzaufführung zusammen, ergänzt sich und erntet bestenfalls keine Lacher aus dem Publikum.
Synthetisch-harmonisierend könnte man diese Figur nennen. Und glaubt man Panajotis Kondylis, dann ist es kein Zufall, dass ausgerechnet das Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts daran großen Gefallen fand. Für ihn stellt die Abstraktion dieser Gedankenfolge, das Ineinandergreifen des Verschiedenen, das Harmonisieren des Gegenläufigen im Ganzen, die idealtypische Denkfigur der bürgerlichen Moderne dar: Geist und Natur, Norm und Trieb, Gefühl und Verstand, Gemeinwohl und Privatinteresse – das alles gehört zusammen. Im bürgerlichen Individuum, gekrönt durch seine Vernunftfähigkeit, spielen all diese Teile zu einem Ganzen zusammen. In der Kunst äußert sich das zum Beispiel bei der Beurteilung Laokoon-Gruppe von Johann Joachim Winckelmann:
» Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. (…) Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilt und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktetes: sein Elend geht uns bis an die Seele, aber wir wünschten, wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können.«
Oder auch bei Goethe:
»Ich getraue mir daher nochmals zu wiederholen: daß die Gruppe des Laokoon neben allen übrigen anerkannten Verdiensten zugleich ein Muster sei von Symmetrie und Mannigfaltigkeit, von Ruhe und Bewegung, von Gegensätzen und Stufengängen, die sich zusammen teils sinnlich, teils geistig dem Beschauer darbieten, bei dem hohen Pathos der Vorstellung eine angenehme Empfindung erregen und den Sturm der Leiden und Leidenschaft durch Anmut und Schönheit mildern.«
Ebenso natürlich in der Wirtschaft. Adam Smith etwa schreibt exemplarisch:
»Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch dieses so lenkt, daß ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten läßt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, daß das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewußt das Allgemeinwohl, noch weiß er wie hoch der eigene Beitrag ist. (..) Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.«
Die Gedankenfolge, die diese synthetisch-harmonische Figur ausmacht, lautet in etwa so: Das Individuum kann nur in Freiheit sein Vernunftvermögen voll ausschöpfen. Die Vernunft führt zum Erkennen des Notwendigen: Des Wahren, Guten, Schönen. Und damit – wieder ins konkrete gewendet – zum Gemeinsamen, was im 18. und 19. Jahrhundert so viel hieß wie: zum bürgerlichen Staat, zur humanistischen Bildung, zum Fortschritt der Geschichte, zur Darstellung der Kunst und so weiter und so fort. Dass dies zum Teil hochideologische Ableitungen waren, ist kein Geheimnis. Sie ergeben sich nicht nur aus der Logik der Denkfigur, die in ihrer Abstraktion ja eine rein philosophische ist, sondern auch und vor allem aus den materiellen, psychologischen und sozialen Bedingungen des liberalen Bürgertums als konkrete historische Erscheinung.
Das lässt sich vor allem daran erkennen, dass sich diese Denkfigur inzwischen aufgelöst hat, selbst dort, wo ihre eigentliche weltanschauliche Heimat wäre: im Liberalismus. Der heutige Liberalismus speist sich vornehmlich aus einer anderen Quelle, dem Individualismus. Diese Denkfigur geht einen anderern Weg. Sie setzt an die Stelle der Willensautonomie zum Vernunftgebrauch das Wollen für sich. Der Leitspruch dieses – man könnte frech sagen – Neoliberalismus lautet: »Mach was du willst!«. Und er erfährt allenfalls Einschränkung durch: »Komm dabei keinem anderen in die Quere«.
Natürlich kannte auch der bürgerliche Liberalismus eine individualistische Komponente. Nur sie war eben das, was so vieles in ihm vereinigt darstellte: ein Teil, das erst im Zusammenspiel mit anderen Teilen Wert erlangt. In diesem Fall etwa das individuelle und vernünftige Bekenntnis zum Gemeinsamen; sei es Familie, Dorfgemeinschaft, Staat oder Nation.
Hierin liegt eine wesentliche Schwäche des heutigen Liberalismus. Er möge noch so oft betonen, zur Freiheit gehöre wie ein alte, verlotterte Stiefschwester auch die Verantwortung. Wofür aber Verantwortung zu übernehmen sei, vermag er nicht mehr zu beantworten. Ein Ausweg stellt die Flucht in Floskeln da, die mehr verwässern als begreifen – wenn etwa von »für die Gesellschaft« die Rede ist. Ein anderer Ausweg ist das Wegsperren der hässlichen Schwester in den Turm der Vergangenheit. Die Freiheit ist dann ein Wert an und für sich, der – außer dem juristischen – keinen weiteren Rahmen erhält. Gut ist, was hinten bei rauskommt. Der Markt hat entschieden, der Konsument oder das Individuum. So oder so: Das Ergebnis entzieht sich der moralischen Bewertung, weil außer dem Freiheitskriterium kein weiteres Kriterium mehr zur Verfügung steht.
Man findet die Surrogate dieses Liberalismus in der Wirtschaft (was gemeinhin Neoliberalismus genannt wird) ebenso wie in der Gesellschaft (hier: Multikulturalismus); erstaunlicherweise von unterschiedlicher politischer Seite. Dem Gedankengang folgend ist es konsequent, wenn sich also progressive Sozialliberale und neoliberale Wirtschaftsliberale auch politisch annähern, sei es durch Koalitionen oder Parteien. Sie beide sind Ausdruck derselben gedanklichen Haltung. Tanzen jedoch können beide nicht mehr. Zum Glück?
Literatur
Kondylis, Panajotis: „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne“, Weinheim 1991.
Kommentar
Eine hervorragende, fundierte Ergänzung zu Kondylis‘ These zum Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, der eigentlich nur ein Niedergang der Bürgerlichkeit, nicht der tragenden sozialen Schicht, war, finden Sie in:
Dietz, Harald: „Der vermeintliche Untergang des Bürgertums – eine verfrühte Grabrede von Panajotis Kondylis?“, IABLIS 14, 2015, online unter: https://www.iablis.de/iablis_t/2015/dietz15.html.
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