Können wir einfach wieder traditionell sein?

In turbu­lenten Zeiten ist der Rück­griff auf die Vergan­gen­heit beson­ders attraktiv. Die Gegen­wart zeigt immer in tausend verschie­dene Rich­tungen, deren Ziele weit­ge­hend unbe­kannt sind. Wege gibt es immer nach über­allhin. Wer weiß, wie wir in zwanzig Jahren leben? Künst­liche Intel­li­genz, Medi­en­wandel, multi­kul­tu­relle Gesell­schaft, Globa­li­sie­rung –das sind Schlag­worte, die nichts Genaues bezeichnen, sondern die grund­sätz­liche Offen­heit der Gegen­wart zu bändigen versu­chen. Wohin der Weg tatsäch­lich führt, muss die Zeit uns zeigen.

Die Vergan­gen­heit erscheint demge­gen­über als ein sicherer Hafen. Sie ist abge­schlossen, und als solche können wir sie schätzen, verehren, aber auch kriti­sieren – oder einfach vergessen. Weil wir uns auf unter­schied­liche Weise zu ihr verhalten können, unter­liegt sie auch dem poli­ti­schen Streit. Ein mögli­cher Vergan­gen­heits­bezug erfolgt dabei im Modus der Tradi­tion. Sie dient als Chiffre des Stabilen, indem sie eine schein­bare oder tatsäch­liche Konti­nuität zur Vergan­gen­heit herstellt. Eric Hobs­bawm und Terence Ranger zeigten in ihrem inzwi­schen 35 Jahre alten Klas­siker The Inven­tion of Tradi­tion, dass moderne Gesell­schaften „Tradi­tionen“ nicht selten rich­tig­ge­hend erfinden, dass mithin Tradi­ti­ons­be­züge nicht nur für „tradi­tio­nale Gemein­schaften“ typisch sind. Gerade in Zeiten schnellen sozialen Wandels hatte und hat das Erfinden von Tradi­tionen Konjunktur, um sich verän­derte Lebens­welten anzu­eignen und ihnen einen Sinn zu geben.

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„Landesvater der deutschen Studenten in Prag“, Oskar Rex (gemeinfrei)

In auto­ri­tären Staaten kommt der Suche nach Tradi­tionen eine beson­ders wich­tige Bedeu­tung zu – auch in unseren Tagen. Staat­liche Geschichts­po­litik soll dort den Macht­er­halt sichern, indem die eigene Herr­schaft auf angeb­liche »Ursprünge« und Abstam­mungs­li­nien zurück­ge­führt wird. Ambi­va­lenzen haben in diesen Vergan­gen­heits­be­zügen keinen Platz. Die Geschichte wird auf einfache ethni­sche, reli­giöse oder ideo­lo­gi­sche Sinn­be­züge redu­ziert, die die Gegen­wart auf natio­nale Iden­ti­täten und kultu­relle Eigen­arten fest­legen sollen.

Die türki­sche Regie­rung öffnete zum Beispiel Anfang des Jahres ihr bisher streng gehü­tetes Bevöl­ke­rungs­re­gister, das unter anderem Abstam­mungs­ur­kunden enthält, die bis ins Jahr 1882 zurück­rei­chen. Das Inter­esse der Bevöl­ke­rung war groß. Die Website stürzte binnen weniger Stunden ab. Staats­prä­si­dent Erdoğan bezweckte damit vor allem, den türki­schen Staat und seine Bewohner in die Tradi­ti­ons­linie des Osma­ni­schen Reichs einzu­ordnen, aus dessen Spät­zeit die älteren Doku­mente stammen. Die Öffnung des Archivs erfolgte parallel zur Offen­sive des türki­schen Mili­tärs in Nord­sy­rien – ein Vorgehen, dass Erdoğan in einer Rede explizit mit Bezug auf die osma­ni­sche Mili­tär­po­litik recht­fer­tigte. Gegenwarts- und Geschichts­po­litik gehen hier Hand in Hand.

Auch die russi­sche Regie­rung bastelt an ihrer eigenen Vergan­gen­heit, indem sie sich als »dritte Zivi­li­sa­tion« von Europa und Asien abgrenzt. Sie beschwört die »russi­sche Seele«, die quasi schon immer den Libe­ra­lismus wie den »orien­ta­li­schen Tota­li­ta­rismus« glei­cher­maßen ablehne. In diesem Kontext gab die Regie­rung ein natio­nales »Einheits­ge­schichts­buch« in Auftrag, das Wladimir Putin vor vier Jahren eigen­händig präsen­tierte. Der rote Faden dieser Geschichts­schrei­bung ist bei aller äußeren Moder­nität vor allem die Vertei­di­gung zaris­ti­scher und sowje­ti­scher Impe­ri­al­po­litik. Im Veröf­fent­li­chungs­jahr des Buches trat Russ­land in der Ukraine selbst wieder sichtbar als impe­rialer Akteur auf – ganz im Sinne Putins, Russ­land zu alter Größe zurück­zu­führen.

Die langen Tradi­ti­ons­li­nien, die sich der russi­sche Staat zuschreibt, enden nicht nur in diesem Fall dort, wo aktuell die Regie­rung Putins steht – als deren Verkör­pe­rung und Fort­set­zung. Das ist kein Zufall. Das ideo­lo­gi­sche Programm der russi­schen Regie­rung soll viel­mehr ganz grund­sätz­lich als Ausdruck der russi­schen Nation und ihrer Geschichte erscheinen. Das ist die Botschaft, die vermit­telt werden soll.

Mit der Auto­rität des Staates versehen, wird diese Geschichts­er­zäh­lung zur Norm: Wer einen kriti­schen Einwand zur Politik der Regie­rung äußert,  zwei­felt an der russi­schen »Iden­tität«, wie sie aus der konstru­ierten Tradi­tion herge­leitet wird. Wer so etwas wagt, gilt schnell als Verräter und darf staat­li­cher Repres­sion unter­zogen werden. Entspre­chend gibt es mehrere Fälle, in denen russi­sche Histo­riker, die sich kritisch mit der russi­schen Geschichte im 20. Jahr­hun­dert ausein­an­der­setzen, unter faden­schei­nigen Anschul­di­gungen ange­klagt wurden.

Das sind nur zwei Beispiele. Ähnliche Vorgänge lassen sich in Indien oder China fest­stellen. Auch euro­päi­sche Demo­kra­tien bleiben davon nicht verschont. In Ungarn etwa steht die Kultur­branche bereits unter enormer staat­li­cher Einfluss­nahme, um Kritiker der Regie­rung als Aggres­soren wider die tradi­tio­nelle unga­ri­sche Lebens­weise abzu­stem­peln und aus dem Weg zu räumen. Auch Parteien wie die AfD, der Front National oder die FPÖ arbeiten an einer Konstruk­tion dessen, was aus der Tradi­tion heraus zu gelten habe. Im Grund­satz­pro­gramm der AfD heißt es, die Partei stehe für die »gelebte Tradi­tion der deut­schen Kultur« und dass »unser aller Iden­tität vorrangig kultu­rell deter­mi­niert [sei]. Sie kann nicht dem freien Spiel der Kräfte ausge­setzt werden.« Das ist noch harmlos formu­liert. Die AfD-Thüringen spricht in einem Posi­ti­ons­pa­pier von »der deut­schen Seele«, die sich »nicht zuletzt in mythi­schen Erzäh­lungen sowie in der beson­deren Ausprä­gung bestimmter Tugenden« mani­fes­tiere. Entspre­chend soll nach AfD-Meinung auch die Kultur­po­litik zur Förde­rung einer posi­tiven Natio­nali­den­tität beitragen. Eine Iden­tität, die – so die Behaup­tung – die AfD natür­lich exklusiv vertrete.

Tradi­ti­ons­be­züge kennen auch andere Parteien. Der wesent­liche Unter­schied liegt darin, ob diese Bezüge ein plura­lis­ti­sches Bild der Vergan­gen­heit (und Gegen­wart) zulassen, oder ob die darin enthal­tenen Ambi­va­lenzen zugunsten etwa einer »ethno­kul­tu­rellen« Iden­tität ausge­schaltet werden sollen. In der rechts­po­pu­lis­ti­schen Vorstel­lung gerät die Tradi­tion zum unver­füg­baren Ursprung der Gesell­schaft, aus dem es kein sinn­volles, sondern nur ein zerstö­re­ri­sches Entkommen gibt. Weil wir so waren, sind wir deter­mi­niert so zu sein – diese Argu­men­ta­ti­ons­struktur findet sich immer wieder am Boden der Parolen.

In der Moderne ist die Konstruk­tion eines solchen Ursprungs, aus dem sich die Tradi­tionen speisen würden (und an denen es also unbe­dingt fest­zu­halten gilt) bis an die Grenze der Unmög­lich­keit proble­ma­tisch geworden. Eine funktional-differenzierte Gesell­schaft des 21. Jahr­hun­derts lässt sich offen­sicht­lich nicht mehr auf einen solchen Ursprung zurück­führen. Sie konsti­tu­iert sich in den sozialen Bezie­hungen mannig­fal­tiger unter­schied­li­cher Milieus, Schichten, Lebens­formen, Berufen usw. Jede Tradi­tion, die ihre Geltung auf einen Ursprung zurück­führt und diesen rein­zu­halten verspricht, schei­tert im Moment ihrer Formu­lie­rung an diesem Plura­lismus. Ein Beispiel liefern die Verfechter des Auto­ri­tären selbst: viele Türken, die das Angebot ihrer Regie­rung nutzten und ihre genea­lo­gi­sche Herkunft z.T. bis ins Osma­ni­sche Reich zurück­ver­folgten, entdeckten, dass sie kurdi­sche, arme­ni­sche, euro­päi­sche oder ostasia­ti­sche Vorfahren haben. Die ethni­sche Diver­sität war immer vorhanden. Sie geriet nur in Verges­sen­heit.

Warum ist das Tradi­ti­on­s­ar­gu­ment dennoch so beliebt? Es handelt sich um einen rheto­ri­schen Trick. Rechts­po­pu­lis­ti­sche Parteien können, indem sie öffent­lich eine solche angeb­lich stabile Tradi­tion behaupten, Wähler an sich binden, für die die Komple­xität modernen Lebens krisen­haft geworden ist, weil sie z.B. den Arbeits­platz verloren haben oder weil ihre gesell­schaft­li­chen Privi­le­gien infrage gestellt werden. In solchen Situa­tionen dient »Tradi­tion«als Chiffre einer angeb­lich ange­stammten privi­le­gierten Stel­lung, die durch Eman­zi­pa­ti­ons­dis­kurse scheinbar gefährdet wird. Jeder, der dieser Traditions-Konstruktion öffent­lich wider­spricht, stellt diese Privi­le­gien in Frage – was den Ärger nur vergrö­ßert.

Wer seinem Wahl­pro­gramm den Mantel des Tradi­tio­nellen umhängt, verschleiert damit auch die Radi­ka­lität seiner Forde­rungen. Rechts­po­pu­lis­ti­sche Poli­tiker treten häufig mit der Behaup­tung auf, sie seien selbst nur Vertreter der Tradi­tion – während alle anderen Parteien diese Posi­tion atta­ckieren würden. Ellen Kositza, eine Front­frau der Neuen Rechten, spricht etwa von einem „Angriff auf die Norma­lität“, der mittels Gender­de­batten und -Forschung durch­ge­führt werde, um »Tausende Jahre währende (…) anthro­po­lo­gi­sche Grund­sätze wie die des Geschlech­ter­dua­lismus« zu besei­tigen.

Eine demo­kra­ti­sche Öffent­lich­keit zeichnet sich auch dadurch aus, diesen Dogma­tismus sichtbar zu machen und der Refle­xion zu unter­ziehen. Denn das rechts­po­pu­lis­ti­sche Tradi­ti­ons­an­gebot ist in Wahr­heit ein anti­po­li­ti­sches. Wer ›hinter der Gesell­schaft‹ einen unver­füg­baren Ursprung vermutet, aus dem sich Tradi­tionen speisen, die unbe­dingt und unhin­ter­fragt weiter­ge­führt werden müssen, engt den Raum des poli­ti­schen Agie­rens ein. Gesell­schaft und die Politik könnten, folgt man dieser Vorstel­lung, sich weder wachsam den Problemen der Gegen­wart zuwenden noch selbst Verän­de­rungen herbei­führen, die einer Tradie­rung würdig wären.

Die große Renais­sance der Tradi­tion in auto­ri­tären Regimen ebenso wie in west­li­chen Demo­kra­tien hat poli­ti­sche Teil­nahms­lo­sig­keit zum Zweck. Sie will verun­mög­li­chen, dass Bürger oder die Zivil­ge­sell­schaft selbst einen Anfang setzen und gesell­schaft­liche Struk­turen der Refle­xion unter­ziehen. Die Vertreter des Auto­ri­tären insze­nieren sich selbst als einzig tradi­tio­nelle und damit legi­time Posi­tion, während Kritik, Diskurs und Parti­zi­pa­tion struk­tu­rell ausge­schlossen werden. Es handelt sich also um eine Politik, die der Möglich­keit der Verän­de­rung ein Ende setzen will.

Die Tradi­ti­ons­po­litik, wie sie uns hier begegnet, hat wenig mit einem blick­wei­tenden und erkennt­nis­för­dernden Rück­griff auf histo­ri­sche Über­lie­fe­rungen zu tun. Aus der Vergan­gen­heit kann man viel Neues lernen, histo­ri­sche Zusam­men­hänge verstehen und fremde Epochen für sich entde­cken. Man kann durchaus auch sehn­süchtig über den Glanz früherer Zeiten staunen. Aller­dings nur, wenn wir den Frei­raum haben, zu entscheiden, wie wir uns zu unserer Vergan­gen­heit verhalten wollen. In der rechts­po­pu­lis­ti­schen Vorstel­lung gerät die Vergan­gen­heit über das Tradi­ti­on­s­ar­gu­ment aller­dings zur Herr­schaft über die Gegen­wart – zum trau­rigen Nach­teil beider.

Können wir also einfach wieder tradi­tio­nell sein und in die Ruhe der Vergan­gen­heit einkehren? Nein, weil diese schein­bare Ruhe an einen konstru­ierten Ursprung verfallen macht, der uns regungslos werden lässt. Für eine moderne Gesell­schaft, die nicht ins Auto­ri­täre umschlagen will, ist der Rück­griff auf Tradi­tionen nur im Plural denkbar. Und mit dem Wissen im Hinter­kopf, dass sie uns nicht fest­legen, sondern Möglich­keiten eröffnen.

Hinweis

Dieser Artikel erschien am 11. Juli 2018 in ›Geschichte der Gegenwart

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